Das
zweite Gesicht
Es
ist eine Frau verschwunden, die zuletzt, lange Zeit, nur noch eine Stimme,
gelegt auf alte Photos, gewesen ist. Eine "zu Tode Photographierte",
wie sie selbst gesagt hat: eine Fläche mit einem Bild, und auf dieses
Bild konnte jeder ein zweites projizieren, ein Bild auf ein Bild, und
trotzdem ist sie darunter immer eine, eine einzige geblieben. Keine von
den reinen Natur-Frauen, die das Dritte Reich sich angeeignet hatte und
die von ihr profitierten, nicht die ungeschminkte fesche Bergsteigerin
oder eine im Schidreß und hinter ihr die ewige männliche Projektion
der Unschuld - die verschneiten Berge (vor denen die Frau verschwindet,
endlich selbst verdrängt, und, in ihrem Verschwinden, zur personifizierten
Unschuldigkeit gemacht), nicht das bäurische deutsche Mädel
mit dem breitflächigen Gesicht, die Polenvernichterin mit ihrem klangvollen
Kinderton ("Sie wissen doch, wir kaufen nicht bei Juden!"),
nicht der Vamp mit der sicherlich größeren Stimme, dem der
Wind aber immer nur dasselbe erzählt, das alles oder nichts sein
kann, egal was.
Nein. Kein Nicht-Gesicht, sondern, in seiner extremen Künstlichkeit,
ein Menschen-Gesicht, das jede - männliche wie weibliche - Projektion
wieder auf sich selbst zurückwirft, weil das eigene Sein so stark
und eigensinnig ist, daß es den Blick wieder zurücklenkt auf
den, der das Fleisch beschaut.
Eine Film-, eine Photofläche, die wiederum auf eine Fläche aufgetragen
ist und die jeder als erhaben, erhöht empfinden muß. Aber diese
Erhöhung ist nicht charmantes, mondänes, nebensächliches
Detail, sondern es ist immer nur sie, die sich aus dem Bild wieder herausarbeitet:
diese hochgezogenen Brauen, die dort von Natur aus nie gewachsen waren!
Der berühmte weiße Strich auf dem Nasenrücken, um die
Entenschnabel-Nase klassisch erscheinen zu lassen. Die endlosen Wimpern!
All diese Künstlichkeiten, nur dazu geschaffen (aber nicht von Mutter
Natur!), um das Verborgene herauszureißen aus der Unverborgenheit
(bis sich diese Frau schließlich endgültig selbst verborgen
hat), all diese Farbpinsel, einmal sogar die Goldfarbe am ganzen Körper,
sie haben diese Frau nur immer wirklicher gemacht.

Aufnahme: George Hurell; aus dem Band "The Book of Stars", Schirmer/Mosel
Verlag
Diesem gierigen Griff der Nazis nach allem, was es gibt, diesen Ansprüchen
auf die ganze Welt, die die Goebbels und Hitlers auf nichts als Natur
(Rasse, Blut, Boden) gegründet hatten, ihnen hat sich die Dietrich
als Wirklichkeit ein für allemal entrissen. Dieser Naturhaftigkeit
der hochbezahlten, weiblichen Nazi-Stars, dieser patenten Mädels
und tüchtigen, leiderfahrenen Heldenmütter in spe (und die Frau
ist ja das reine biologische Sein, sie IST Natur und deshalb jedem Zugriff
preisgegeben) ist die reine Kunst im Gesicht Marlenes entgegengesetzt
worden, und aus diesem brutalen Akt des ans Licht Reißens des Verborgensten,
das in endloser Wiederholbarkeit auf einer Leinwand gezeigt wird, ist
ein Kunstwesen gestiegen, das ein Mensch war, weit jenseits der geschändeten
Natur und daher auf ewig jedem Zugriff entzogen. Und doch gerade darin
wieder die Menschlichste von allen.
Ein wie durchsichtiges, sorgfältig bemaltes Gesicht, das den Blick
auf die Wahrheit lenkt. Ein Wesen, das dem Mann herausfordernd an die
Seite tritt, ein Schauen, das Distanz erzeugt, bis diese Durchsichtigkeit
ihr Gegenteil schafft: äußerste Sichtbarkeit, eben Wahrheit.
Und dieses Distanz Gebietende dann wieder ganz aufgehoben auf dem Photo
mit den GIs, die sie zur Truppenbetreuung aufgesucht hat, um ihnen ihre
Lieder vorzusingen, sie ist in ihrer Uniform mitsamt ihren berühmten
Beinen und ihrem übermalten Mund mehr Gefährtin dieser jungen
Burschen als die kumpelhafte Pin-up-Schönheit einer Betty Grable,
die jeder in seinen Spind geklebt hatte, damit sie bei ihm bleibt und
nicht wegrennen kann. Diese Frau, diese Marlene Dietrich hat den Entschluß
gefaßt, bei ihnen zu sein, und der Entschluß macht sie zu
ihrer Kameradin, verwandelt sie ihnen an.
Die Durchsichtigkeit des Gesichts ist durchbrochen, und man kann dahinter
auf diese Frau, diesen Menschen sehen, der kein Schmuck für irgend
etwas oder irgend jemand ist, diese Transparenz aus Puder und Schminke
läßt den Blick überschießen auf das Wissen, das
der Unschuldigkeit des reinen Bildes endlos wieder zurückgegeben
wird, so daß dieses niemals mehr nur ein Bild sein kann und sonst
nichts.
So ist sie in ihrem Verschwinden gleichzeitig immer gegenwärtiger
geworden. Der Blick auf ihre Filme war kein Blick, der seinen Gegenstand
im Schauen aufgehen und damit verschwinden ließ, sondern, im Gegenteil,
dieser Blick des Zuschauers im dunklen Kinosaal hat jenes mit Gold überzogene
Wesen, jene wunderbar lässige tiefe Stimme hervorgebracht, und doch
war das, was da hervorgebracht wurde, nicht das Eigentum jedes einzelnen
Schauenden, diese Frau wurde nicht vom Blick geschaffen so wie jeder-sie-haben-will,
eine für viele, sondern sie taucht auf, wird gezeigt, ihre Flügel
heben sich, und, tatsächlich!, sie schaut zurück! Schaut einen
direkt an, sie nimmt sich, indem sie angeschaut wird, das Recht des Blickes,
und nie wird sie eine für andre sein, sondern, indem sie uns zur
Seite steht, doch immer nur sie selbst bleiben, auch wenn sie jetzt verschwunden
ist.
Die Technik des Films, der Tonaufnahme, sie hat nie vermocht, das Sein
der Dietrich anzutasten und damit schon zu zerschlagen, ja es ist diesem
chemischen Verbannungsprozeß der Technik nicht einmal gelungen,
sie für immer und ewig dort zu bannen, wo sie von einem Schöpfer
(und gerade sie, die ihren Regisseur Josef von Sternberg als "ihren
Meister" und sich als "seine glückliche Marionette"
bezeichnet hat, hat nie wirklich einen Meister gehabt) hingestellt wurde,
nein, indem Apparate sie noch einmal zu erschaffen versuchen, sie nach
wie vor in beliebiger Wiederholung vor uns auftauchen kann, ist sie eben
nicht zu Tode gekommen, sondern sie hat sich selbst, aufgrund des selbst
entscheidenden, denkenden Wesens, das sie war, immer wieder neu erschaffen
können. Sie wird immer wieder aus dem Bild auftauchen, sprechen,
singen, schlendern, aus dem Boden der Leinwand zutage gefördert:
Beute für niemand.
(Der Aufsatz erschien am 15. Mai 1992 in der ZEIT)
Das
zweite Gesicht © 1998 Elfriede Jelinek

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